Zug um Zug weg vom Westen – 1843 Kilometer Türkei. Eine Eisenbahnreise von Istanbul, über Ankara, nach Kars verrät viel über Recep Tayyip Erdogans «neue Türkei».
In Istanbul, aber auch in vielen weiteren türkischen Städten bedankt sich Recep Tayyip Erdogan eine Woche nach den Wahlen mit Plakaten der Regierungspartei AKP bei seinen Wählern, die ihn zum türkischen Präsidenten wiedergewählt haben.
Der Schnellzug von Istanbul nach Ankara erreicht Spitzengeschwindigkeiten von bis zu 250 km/h. Er ist eines von vielen Prestigeprojekten von Präsident Recep Tayyip Erdogan, der sich seit 2003 mit gigantischen Infrastrukturbauten Denkmäler setzt. Dazu gehören auch das erste Atomkraftwerk der Türkei, der grösste Flughafen der Welt, Eisenbahnstränge, Unterwassertunnels, Brücken und ein neuer Präsidentenpalast.
Die Decke der Bahnhofshalle des alten Bahnhofs in Ankara ist mit dem Logo der Türkiye Cumhuriyeti Devlet Demiryollari versehen, der staatlichen Eisenbahngesellschaft der Türkei. Von diesem Bahnhof aus fährt der gemächliche Dogu-Express in Richtung Osten.
Ein Paar fotografiert sich in der Bestepe-Nationalmoschee, die auf dem Areal des Präsidentenpalastes steht. Die Moschee steht für Besucher offen. Unweit der Moschee schlug in der Putschnacht am 15. Juli 2016 eine Bombe ein.
Vor dem alten Bahnhof in Ankara erinnert ein kümmerliches, unscheinbares Denkmal an den Terroranschlag vom 10. Oktober 2015, als sich hier zwei Selbstmordattentäter an einer Friedenskundgebung in die Luft sprengten und 102 Menschen mit in den Tod rissen. Die Demonstration wurde unter anderen von Opposition, Aktivisten, Gewerkschaften und der Kurdenpartei HDP organisiert. Nach offiziellen Angaben wurden die Anschläge durch den Islamischen Staat (IS) verübt – dieser bekannte sich aber bis heute nicht zur Tat. Es war der bisher schlimmste Terroranschlag der Türkei.
Als Erinnerung an den Putschversuch vom 15. Juli 2016 hingegen liess die Regierung das «15.-Juli-Märtyrer-Monument» errichten. Das zirka 31 Meter hohe Denkmal, gleich gegenüber dem 1150 Zimmer grossen Präsidentenpalast, erinnert an die 249 Opfer, die während des Putschversuchs getötet wurden.
Alt trifft auf Neu, Modern auf Traditionell. Reisende warten auf dem Perron im alten Bahnhof von Ankara auf die Ankunft des Dogu-Express.
Nach Passieren der Sicherheitskontrolle besteigen die Passagiere am alten Bahnhof in Ankara den Dogu-Express. Gepäck, Taschen, Familie, Kinder, Vogel, Vogelkäfig – alles muss im Zug Platz finden.
Bei der Durchfahrt der Stadt Kirikkale fährt der Zug unmittelbar an Wohnhäusern vorbei. Wie die Männer auf der Terrasse trinken auch die Passagiere im Zug vorwiegend Tee: Unter Erdogan halten sich wie die nationale Fluggesellschaft auch die Staatsbahnen an die Gebote des Islams und verzichten darauf, Alkohol auszuschenken.
Ein Besuch im Speisewagen ist nicht zwingend nötig: Passagiere teilen während der Fahrt untereinander selbstgemachtes Essen aus. Alkohol wird unter den Passagieren auch getrunken.
Der Speisewagen ist trotz der fettigen Luft, die aus der Küche kommt, ein sehr beliebter Ort – zum Diskutieren, Essen oder einfach nur Schlafen.
An mehreren Stellen stoppen Staudämme das Flusswasser des Euphrats. Stauseen befinden sich dort, wo Familien ihre Häuser bewohnten. Zur Energiegewinnung wurden ganze Landschaften versenkt.
Die Blöcke der staatlichen Wohnbaugenossenschaft Toki sind bekannt für ihre Einförmigkeit. Von der Ägäis bis zum Schwarzen Meer und von der syrischen Grenze bis an die EU-Aussengrenze prägen seit 2003 Toki-Bauten vermehrt das Landschaftsbild.
Endstation Kars: Die ehemalige russische Garnisonstadt war während des Kalten Krieges ein Aussenposten an der Grenze zur Sowjetunion.
Knapp 77 000 Einwohner zählt die Stadt im Nordosten Anatoliens – 45 Kilometer westlich der geschlossenen Grenze zu Armenien.
Neue Zürcher Zeitung "Zug um Zug"
Zug um Zug weg vom Westen – 1843 Kilometer Türkei in 27 Stunden. Eine Eisenbahnreise von Istanbul nach Kars verrät viel über Recep Tayyip Erdogans «neue Türkei».
2018 © Goran Basic/NZZ
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